Es gibt Spekulatius

Published: May, 2014, DIE WELT AM SONNTAG
LUCIAN SMITH, TWO GUYS AND A GIRL, 2012
LUCIAN SMITH, TWO GUYS AND A GIRL, 2012

Während des Gallery Weekends 2013 bekamen die Berliner Gelegenheit, die neuesten Arbeiten des 1986 geborenen kolumbianischen Künstlers Oscar Murillo kennenzulernen. Murillo, der 2012 seinen Abschluss am Londoner Royal College of Art in London gemacht hatte, malt auf unbehandelten großformatigen Leinwänden, verwendet Materialien wie Öl, Schmutz und Mörtel, zieht seine Linien mit einem Besenstiel statt mit dem Pinsel und hat eine Vorliebe für graffitihafte Textfragmente. In der Kunstwelt ist er vor allem durch die erstaunlichen Erfolge seiner Gemälde bei Auktionen bekannt geworden.

Bei Christie’s wurde seine 2012 entstandene Arbeit “Untitled”, deren Wert zuvor auf 30.000 bis 46.000 Dollar geschätzt worden war, für 391.475 Dollar verkauft. Die Galeristen, die ihn zu jener Zeit vertraten, verkauften ähnliche Arbeiten zwischen 30.000 und 40.000 Dollar, hatten aber aufgrund des Runs auf Murillo bald nichts mehr zu bieten. Je mehr Arbeiten von Murillo und anderen jungen Künstlern in Auktionen von Christies, Sotheby’s und Phillips auftauchten, desto öfter war in der Kunstwelt von “Flipping” die Rede, verbunden mit der Angst, dass es in der Gegenwartskunst nur noch um Geld geht. Auch die New Yorker Auktionen der vergangener Woche haben atemberaubende Ergebnisse für junge Kunst gebracht. Ein abstraktes Bild des 25-jährigen Lucian Smith von 2012 erzielte 233.000 Dollar, zwei Gemälde des Kölners David Ostrowski, Jahrgang 1982, erzielten 250.000 and 283.000 Dollar und die pastellfarbige Wolken-Abstraktion des 31-jährigen Alex Israel erbrachten 581 beziehungsweise 1,025 Millionen Dollar.

„Flipping“ bezeichnet die Praxis, Güter nur deswegen zu erwerben, um sie für Gewinn schnell wieder abzustoßen; der Ausdruck kommt aus dem Handel mit Immobilien und der Börsenwelt. Den Medien zufolge ist auch die Kunstwelt von heute voller Flipper. Sie konzentrieren sich auf die so genannte “feuchte Kunst” – so neu, dass die Farbe noch nicht trocknen konnte – und oft auf abstrakte Gemälde. Das Gute am Flipping ist, dass durch die Berichte über gigantische Gewinne sich noch mehr Menschen für die Kunstwelt interessieren. Mit dem “richtigen” Murillo konnte man innerhalb eines einzigen Jahres eine Wertsteigerung von 1000 Prozent erzielen. Das Schlechte am Flipping ist unter anderem die Gefahr, dass es künstlerische Karrieren ruiniert, die noch gar nicht richtig begonnen haben, weil für die Künstler den schnellen künstlichen Hypes mit hoher Wahrscheinlichkeit lange Phasen der Stagnation folgen.

Wie sind wir plötzlich in die Ära der Flipper geraten? Sie kommen nicht
aus dem Nichts; ihr Auftauchen hat mit den substantiellen Veränderungen zu tun, denen das Kunstsystem seit der Jahrtausendwende unterworfen ist. Die Sammler der Gegenwart, ob Flipper oder nicht, sind ein Ergebnis bestimmmter künstlerischer und gesellschaftlicher Veränderungen, die die davor geltenden Zugänge zu Kunst und zum Sammeln im Allgemeinen in Frage stellen. Während der 90-er Jahre des letzten Jahrhunderts wurde der Prototyp des Künstlers jener einer attraktieven öffentlichen Figur die visuell attraktive und konzeptuell unterhaltsame Werke produzierte und nicht wirklich die Absicht hatte, gesellschaftliche Konventionen zu bedrohen. In der Tradition Andy Wahrhols inszenierten Künstler wie Jeff Koons oder Damien Hirst ihre Persönlichkeit für das Publikum und überschritten dabei Grenzen, die traditionell Kunst von Marketing und Unterhaltung geschieden hatten. Längst sind Publicity und mediale Wirkung zu einem wichtigen Element der Kommunikation zwischen Künstler und Öffentlichkeit geworden. Zugleich wurde der Begriff der Avantgarde – die Vorstellungen eines Neuanfangs an einem historischen Nullpunkt und das Überdenken bestehender künstlerischer und gesellschaftlicher Konventionen – immer unwichtiger. Koons spielte eine wichtige Rolle für neuen Auffassungen von Kunst und des Künstlerischen. Er verglich seine Kunst mit dem Fernsehen – allen zugänglich, jedem gestattend, sich auf seine ganz eigene Weise mit ihr zu beschäftigen. Während es manchen Betrachtern genügt, ihre Sensationswerte zu goutieren, setzen andere sich intellektuell mit ihr auseinander oder gehen selbst weiter in ständig zunehmend Konzeptualisierung der Ideen. Koons wollte sein Publikum nicht prellen sondern lieber amkünstlerischen Prozess beteiligen. Durch diese Strategien schuf er Kunst die einerseits autonom und konzeptuell, andererseits aber auch populär und nach Markterwägungen konzipiert war.

Ein anderer Künstler, an dem die Veränderungen der künstlerischer Praxis sichtbar werden, die den Begriff künstlerischer Praxis erfasst haben, ist Damien Hirst. Seit Beginn seiner Karriere trat er auch in der Rolle des Kurators und Händlers auf – nicht nur für seine eigenen Werke. 1988 organisierte er in den Londoner Docklands die Aussstellung Freeze und sorgte selbst für Publicity, um mögliche Sammler anzuziehen. Die Young British Artists, wie sie später genannt wurden, waren oft auf der Suche nach einem “Killer-Konzept”, einem spektakulären Dreh, um die Aufmerksamkeit einer großen Öffentlichkeit anzuziehen – ein Beispiel dafür sind die Skulpturen Marc Quinns, für die er sein eigenes Blut verwendet hat.

In dem Maße, in dem in der künstlerischen Praxis erfinderische Ideen aufzutauchen begannen, denen man eine Verwandtschaft zu Strategien der Werbung anmerkte, schrumpfte in den Diskursen über Kunst die Bedeutung der vorherrschenden Kritischen Theorie und des französischen Poststrukturalismus. Konsequenterweise erlaubte das Fehlen dominanter Ideologien die Koexistenz vieler verschiedener Standpunkte. Dazu kam, dass die Kunst ihr Territorium auf Praktiken ausgeweitet hatte, die zuvor nicht als zu ihr gehörig betrachtet wurden – zum Beispiel auf Mode oder Design. Die Grenzen zwischen dem Hohen und dem Banalen, zwischen Mainstream und Underground wurden immer verschwommener, und was ein Kunstwerk bedeutete, wurde immer öfter dem Betrachter selbst überlassen. Während früher in der kleinen Kunstwelt lange keine Gedanken an die Welt jenseits von ihr verschwendet wurden, gingen am Ende des 20. Jahrhunderts die Künstler dazu über, den Betrachter selbst als die letzte Instanz bei der Interpretation des Werks anzusehen. Kurzum: Für die Sammler, die im neuen Jahrtausend in die Kunstwelt eintreten, ist Kunst zu einer verlockenden ästhetischen und sozialen Praxis geworden, die ein Vergnügen verheißt, in dessen Genuss man auch ohne intellektuelle Involviertheit kommen kann.

Viele der neuen Sammler sind durch die ökonomischen Veränderungen der 90er Jahre geprägt. Damals wanderte die Macht von den Managern zu den Shareholdern, die an globalen, Reichtum vermehrenden Investitionen interessiert sind. Das Bankensystem wurde internationalisiert und verlor teilweise seine Bindung an Nationalstaaten. Statt langfristige Strategienzu verfolgen, begannen sich Investoren auf das Erzielen kurzfristiger Resultate zu verlegen, begünstigt auch durch das Entstehen einer unmittelbaren Kommunikation im globalen Maßstab und die zunehmende Geschwindigkeit von Transaktionen. Die neue Generation von Sammlern konfrontierte die Kunstwelt mit Auffassungen, die sich jenseits von ihr durchgesetzt hatten: weltweite Orientierung, die Bereitschaft, ungeduldiges Kapital für schnelle Profite einzusetzen und das Fehlen langfristiger Loyalitäten. Ein Teil dieser neuen Sammler lehnt die zwei ungeschriebenen Gesetze des guten Sammelns ab. Deren erstes besagt, dass ein guter Sammler niemals Arbeiten verkauft, die er oder sie erworben hat. Diese Regel nützt dem primären Kunstmarkt der Galerien und hält eine Marktstruktur intakt, die aus dem 19. Jahrhundert stammt: Der Künstler schafft ein Werk, die Galerie verkauft es, der Sammler kauft, das Werk verschwindet aus der Sphäre der Zirkulation. In dieser Idealsituation bestimmen die Galerien über den Nachschub und die Verteilung der Werke und regulieren den Preise. Galerien belohnen Sammler, die den Versuchungen des Marktes nicht erliegen, indem sie ihnen das moralische Hochgefühl geben, etwas für die Karriere eines Künstlers zu tun, oder indem sie ihnen den Zugang zu neuen Werken oder zu Wissen erleichtern.

Viele der neuen Sammler jedoch teilen den Unwillen zu verkaufen nicht. Sie haben auch nicht mehr das Bedürfnis, sich auf ältere Eliten zu beziehen oder ihre Verhaltensweisen zu kopieren, wie es in der Vergangenheit üblich war. Während traditionelle Sammler ihr Desinteresse an Kunst als Investition kundtun und ihre tiefere Kenntnis von Kunst und ihre Verantwortung für Kultur betonen, scheint für die Newcomer historisch eingebettete Kennerschaft entbehrlich bei der Absicht zu sein, erfolgreicher Sammler zu werden. Sie erklären guten Geschmack für beliebig, halten die Meinung von konkurrierenden Sammlern für ebenso wichtig wie jene von Kritikern und bezweifeln die Autorität kultureller Eliten. Diese Position wird noch stärker durch die finanzielle Überlegenheit der Neuankömmlinge, mit deren Möglichkeiten alteingesessene Sammler oft nicht mithalten können.

Das zweite ungeschriebene Gesetz des Sammelns besagt, dass man mit den Augen und nie mit den Ohren kaufen, sich also nicht auf Gerüchte und Markttrends verlassen, sondern den eigenen Urteilen trauen sollte. Diese Regel ist eine Bekräftigung der fundamentalen Ideologie des Sammelns: Ein guter Sammler kann man nur werden, wenn man in der Lage ist, auf persönliche Art und Weise die Qualität und wesentlichen kulturellen Werte der Zeit selbst zu erkennen (die offenkundig nicht durch die Trends repräsentiert werden). Gleichzeitig soll diese ungeschriebene Regel vermeiden, dass es je nach Situation im Kunstmarkt zum Hochputschen oder Absacken von Preisen kommt.

Flipper aber kaufen mit den Ohren und verkaufen Werke, um Geld zu verdienen. Sie halten sich nicht an die ungeschriebenen Marktgesetze, traditionellen Auffassungen, moralischen Werte und Ideologien des Sammelns. Doch sie sind keine Außenseiter, sondern gehören zum selben Kunstsystem wie alle anderen an ihm Beteiligten. Auch sie genießen Kunst und die Kunstwelt, obwohl ihr Genuss eher mit Preissteigerungen zu tun hat als mit emotionaler Verbundenheit zu Kunstwerken. Flipper sehen sichselbst oft als leidenschaftliche Sammler, aber als solche, die ihre Leidenschaften schnell wechseln. Die Abwesenheit von finanziellen “Opfern” beim Kaufen von Kunst, die Geschwindigkeit des gegenwärtigen Marktes und ihre Indifferenz profunder Kennerschaft gegenüber führen dazu, dass ihnen lang-fristige Treue zu bestimmten Künstlern und Bewegungen abhanden gekommen ist. Der amerikanische Künstler Chuck Close hat die Geschichte eines Sammlers erzählt, der jahrelang wartete, um eine Arbeit von ihm zu bekommen, von der er versprochen hatte, sie einem Museum in Texas zu stiften. Doch als es ihm endlich geglückt war, sie zu erwerben, verkaufte er sie am Tag danach. Vom Galeristen um eine Erklärung gebeten, sagte er: “Ich mag zwar Sammler sein, aber zuallererst bin ich Geschäftsmann. Und jedes Mal, wenn ich die Chance bekomme, an einem einzigen Tag mein Geld zu verdreifachen, werde ich sie wahrnehmen.”

Flipper interessieren sich vor allem für frische und abstrakte Malerei, die sie in Galerien kaufen und kurz danach wieder im Zweitmarkt verkaufen.Warum jung und warum Malerei ist nicht schwierig zu erklären. Junge Werke neuer Maler sind erhältlich und fürs Spekulieren bestens geeignet, schließlich wissen wir alle, dass alle teuren Künstler mit niedrigen Preisen begonnen haben; was die Malerei betrifft, hat sie bei Auktionen seit jeher als am einfachsten verkäuflich erwiesen. Woher die Neigung zur Abstraktion kommt, bedarf jedoch einer genaueren Analyse.

In der Gegenwart gibt es verschiedene Zugänge zur Abstraktion, doch bei vielen Künstlern ist die urbane populäre Kultur eine wichtige Inspiration, auch was das Material betrifft. Lucian Smith etwa sprüht mit Feuerlöschern Acrylfarbe auf unbehandelte Leinwände und nennt das “Rain Paintings”; Michael Manning hat seine “Microsoft Store Paintings” in Microsoft-Lädenauf Vorführ-Tablets gemalt; Ned Vena verarbeitet in seinen Werken auch Klebefolien, und Dan Colen arbeitet mit Vogelscheiße und Kaugummi. All diese Arbeiten beziehen sich auf die Malerei, wollen aber nicht die Bildsprache zur ihrer elementaren Formen reduzieren, wie es im Modernismus der Fall war. Die zeitgenössische Abstraktion erzählt oft auch von der Geschichte ihrer Entstehung, in der Einfallsreichtum – die “Killer-Idee” – eine entscheidende Rolle zu spielen scheint. Dieser Zugang widerspricht jenem der historischen Abstraktionen, beispielsweise des Abstrakten Expressionismus, die darauf setzten, beim Zuschauer ein ästhetisches Erlebnis hervorzurufen. Wenn Mark Rothko in den 1960-ern sagte: “Die Menschen, die vor meinen Bildern weinen, machen dieselbe religiöse Erfahrung wie ich beim Malen”, ist das weit entfernt vom konzeptuellen Zugang zeitgenössischer Urbaner Künstler, die das Erhabenen von Kunst nicht mögen und ihre Arbeiten lieber in den verschiedensten Alltags-Narrativen ansiedeln.

Das Werk des zur Zeit populären norwegischen Künstlers Frederik Vaerslev ist ein Beispiel dafür, wie Urban Abstraction funktioniert. Er beginnt seine Arbeiten, indem er abstrakte geometrische Konstruktionen von Streifen malt, um danach die Leinwand unvorhersagbaren Wetterbedingungen auszusetzen. Seine Idee besteht darin, am Entstehungsprozess des Werkes auch die Natur und den Zufall teilhaben zu lassen. Dieses Vorgehen lässt sich als konzeptuell interpretieren, was Vaerslevs Arbeiten vom möglicherweise als altmodisch angesehenen Territorium des reinen Malens abhebt. Ihre visuelle Erscheinungsform erlaubt es jedoch, sie mit wichtigen abstrakten Malern wie Barnet Newmann oder Frank Stella inVerbindung zu bringen. Auf diese Weise sucht die Urban Abstraktion eine Verbindung zur Kunstgeschichte, ohne sich ihre schwere theoretische Last aufzubürden. So kann sie auch ohne Anerkennung durch die Kritik bestehen. Sammler erscheinen solche abstrakten Arbeiten als formal attraktiv – einige von ihnen einfach als schön – und gleichzeitig als konzeptuell stimulierend. Von einem praktischen Standpunkt aus betrachtet, erlauben die spezifischen Techniken, die von jedem dieser Künstler angewandt werden, eine schnelle Entstehung, während ihre Wiederkennbarkeit sie zu etwas Ähnlichem wie Markenprodukten macht. Die Markenbildungsqualität von Urban Abstraction ist im Markt von unschätzbarer Bedeutung, ebenso wie ihre formale Wiedererkennbarkeit. Beides beschleunigt und vereinfacht den Handel. Dank des Internets und Apps wie Instagram können Bilder mittlerweile den Besitzer wechseln, ohne wirklich in Augenschein genommen zu werden, und mehr und mehr Sammler finden nichts mehr daran auszusetzen, Werke zu kaufen, von denen sie bloß ein jpeg gesehen haben. Das diese dann leichtern Herzens weiterverkauft worden, ohne überhaupt ausgepackt zu werden, ist traurig aber verständlich.

Noch ist Flipping eine Randerscheinung, aber sie weist auf mögliche Veränderungen: Innerhalb des Kunstssystems gibt es mehr und mehr Platz für Hedge Fonds-Haltungen, bei denen die emotionale Anregung zumeist am finanziellen Erfolg gekoppelt ist.

OSCAR MURILLO, <em>UNTITLED</em>, 2012
OSCAR MURILLO, UNTITLED, 2012
JEFF KOONS, <em>PINK PANTHER</em>, 1988
JEFF KOONS, PINK PANTHER, 1988
ISREAL LUND, <em>UNTITLED</em>, 2013
ISREAL LUND, UNTITLED, 2013
PARKER ITO, <em>THE AGONY AND THE ECSTASY</em>, 2012
PARKER ITO, THE AGONY AND THE ECSTASY, 2012
FREDERIK VAERSLEV, <em>LANTERNE ROUGE</em>, 2012
FREDERIK VAERSLEV, LANTERNE ROUGE, 2012
DAVID OSTROWSKI, <em>WERK F (BETWEEN TWO FERNS)</em>, 2012
DAVID OSTROWSKI, WERK F (BETWEEN TWO FERNS), 2012